Natur als höchster Wert

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Die “Natur” – was immer man darunter versteht – gehört zu den ganz wenigen unbestrittenen Werten unserer Hightech-Gesellschaft. Ihr jüngster Aufstieg im konsumbürgerlichen Wertehorizont begann in den 80er Jahren, damals noch eher in der klageträchtigen Variante einer neuen Umweltmoral.
Das Gebot des Umweltschutzes rückte in repräsentativen Umfragen zügig an die soziologische Traumgrenze von 80-90 % Zustimmung heran und überholte dabei sogar scheinbar so urdeutsche Werte wie Glaube und Wohlstand.
Auf derselben Akzeptanzebene wie Freiheit, Freundschaft und Familie sowie Ehrlichkeit, Treue und der Achtung vor dem Leben angesiedelt, wird der Erhaltung der Natur der gleiche Rang eingeräumt wie zentralen christlichen Geboten.
Seit Mitte der 90er Jahre ist das Bekenntnis zum Umweltschutz wieder rückläufig.
Die kollektive Moral wird als Lebensmaxime mehr und mehr durch den individuellen Genuß ersetzt. Der Wertschätzung von Natur hat das keinen Abbruch getan. Nur ist es statt der bedrohten jetzt die schöne Seite der Natur, die den Zeitgenossen über alles zu gehen scheint.
Das sensibelste Barometer für diesen Prozess ist der Wandel unserer Urlaubsmotive. War “Natur erleben” Anfang der 80er Jahre mit rund 40% Zustimmung nur ein Reisemotiv unter vielen, so hat es sich seither kontinuierlich hochgearbeitet und rangiert mittlerweile mit etwa 80% an der
Spitze der Rangskala. Demgegenüber kommt die ins Umweltvokabular gekleidete Variante des Naturmotivs (“aus der verschmutzten Umwelt herauskommen”) nur noch auf gut 60%.
Dabei bezieht sich die neue Natursehnsucht der Urlauber vor allem auf eine schöne, naturnahe Landschaft. Für sich allein genommen spielt sie sogar für bis zu 90% der Reisenden eine entscheidende Rolle bei der Urlaubswahl. Man wünscht sich eine schöne Kulisse für die schönsten Tage des Jahres, und die sucht man mit Vorliebe in einer von zivilisatorischen Verunstaltungen möglichst freien Gegend.
Was für den Urlaub gilt, ist auch für den Alltag wichtig. Bei der Bewertung von DiaSerien mit den unterschiedlichsten Landschaftselementen kommen natürliche Szenen stets besser weg als Bebauungsszenen. Der Naturgehalt einer Szenerie scheint ein fundamentales Differenzierungskriterium zu sein. Selbst unspektakuläre Naturbilder werden positiver als die meisten Stadtansichten bewertet. Innerhalb eines bebauten Areals erhöht das kleinste Detail an Vegetation signifikant dessen ästhetische Klassifizierung. Statistisch gesehen fungiert der Naturanteil bei der Beurteilung von Stadtszenen als entscheidender Diskriminator.
Auch ohne Statistiken wissen wir um die Hochschätzung der Natur auch und gerade in künstlichen Umgebungen. In den Städten werden für stark durchgrünte Wohnlagen oder gar Residenzen am Rande von Parks Höchstpreise bezahlt, wer es sich leisten kann, zieht an den
Stadtrand oder aufs Land.
Eine systematische Konfrontation von Großstädtern mit der Frage,
was das Stadtleben für sie eigentlich attraktiv macht, hat denn auch ergeben, dass unter Dutzenden von Auswahlantworten nicht etwa Theater, Restaurants oder Shopping-Center, sondern Grünanlagen, Naherholungsgebiete und Wanderwege mit Quoten von 80% die meiste Zustimmung erfahren.

Allein schon diese wenigen, mehr oder weniger nur zufällig zusammengetragenen Befunde machen deutlich, dass mit der steigenden Verkünstlichung unserer Lebenswelt zugleich auch der Drang zur Natur wächst. Haben unsere Altvorderen den Prozess der Zivilisation vor allem als Weg zu mehr Sicherheit und Geborgenheit vor der Unbill der nackten Natur erlebt, so verbindet sich mit der ständig beschleunigten Technisierung des Lebens und der damit verbundenen dem fast mittlerweile ein wachsender Stress, den man durch eine mindestens zeitweise (wenn auch oberflächliche) Rückwendung zur Natur zu lindern sucht. Es scheint fast so,
als ob die ersehnte Naturnähe einen notwendigen Gegenpol zur allgemeinen Überzivilisierung darstellt, das man zur Wahrung bzw. Wiederherstellung des inneren Gleichgewichts braucht.
Naturpsychologie In der Tat scheint uns die Natur besser als jede andere Fluchtalternative oder Droge genau jene psychische Entlastung zu liefern, ohne die wir die fast durchgängig gläserne Künstlichkeit unserer alltäglichen Umwelt – wir verbringen unsere Tage fast nur noch vor und hinter Glasscheiben – kaum mehr ertragen können.
Dass gerade sie dazu geeignet ist, hat etwas mit unserer eigenen Natur zu tun. Darauf jedenfalls deuten die zum Teil erstaunlichen Befunde der Naturpsychologie hin.
So hat diese vergleichsweise junge Teildisziplin der Psychologie schon vor zwei Jahrzehnten herausgefunden, daß das Anschauen von Naturbildern weit weniger ermüdet als das von Stadtbildern. Während letztere eher negative Emotionen fördern, lassen erstere die Stimmung steigen, Puls und Blutdruck sinken, und im Gehirn verstärken sich Entspannung signalisierende Alpha-Wellen. Patienten, die aus ihrem Krankenhaus-Zimmer ins Grüne blicken,
brauchen nach systematischen Untersuchungen deutlich weniger Pflegezuwendung wie Schmerzmittel und werden schneller wieder gesund als ihre Leidensgenossen mit Ausblick auf Nachbargebäude. Bei der Suche nach einer angstlösenden Musik haben Mediziner herausgefunden, daß Aufnahmen mit Naturgeräuschen den optimalen Effekt haben.
Nicht weniger aufschlußreich ist jener in den USA durchgeführte Vergleichstest von Ausdauerläufern, die jeweils zur Hälfte eine feste Strecke auf dem Laufband in der Halle und in der freien Natur zu absolvieren hatten. Während die Outdoor-Läufer subjektiv erfrischt und objektiv mit weniger Streß- und mehr Aufhellungshormonen zurück kamen, war die Stimmung der puren Bandläufer (auch nach Ausweis der entsprechenden Hormonspiegel) gesunken; eine dritte Testgruppe, die zwar in der Halle blieb, aber mit Vogelgezwitscher beschallt wurde, zeigte keine nennenswerte Befindensänderung. Offenbar zeitigt also allein schon die pure Naturkulisse tiefgehende psychische Wirkungen im Menschen, der Kontakt mit der Natur bringt unsere eigene Natur zur optimalen Entfaltung Dass sich dies nicht nur auf die Ebene des Emotionalen bzw. Vegetativ-Unbewußten beschränkt, macht eine Untersuchung über das Entstehen betrieblich bedeutsamer innovativer Ideen deutlich: Danach haben Arbeitnehmer die meisten kreativen Einfälle nicht etwa auf eigens zu diesem Zweck einberufenen Mitarbeiterforen, sondern schlicht in der freien Natur.
Landschaftsästhetik Untermauert werden diese noch recht sporadischen Befunde durch die empirisch sehr viel abgesicherteren Antworten auf die Frage, welche Art bzw. Elemente von Natur denn so ganz besonders entspannend und anziehend auf uns wirken. Ein entscheidender Anstoß, dieser Frage genauer nachzugehen, ging von den amerikanischen Nationalparks aus, die aus eher kommerziellen Gründen nach Kriterien suchten, um ihre Anziehungskraft zu steigern und sich in den Augen der Besucher besonders attraktiv präsentieren zu können. Die seither zahlreichen Studien zur Landschaftsästhetik haben zum einen gezeigt, daß wir in der Regel eine besondere Zuneigung zu der Landschaftsformation entwickeln, in denen wir aufgewachsen sind.
Darüber hinaus gibt es jedoch weltweit erstaunlich einheitliche Vorstellungen davon, was eine schöne Landschaft ausmacht.
Folgende Landschaftsformationen werden gleichermaßen von Europäern, Amerikanern und Asiaten als schön empfunden:
• eine relative Naturnähe, die sich durch das Fehlen künstlich-technischer Elemente auszeichnet, gleichwohl aber nicht mit Wildnis gleichzusetzen ist;
• ein offener Bewuchs nach Art einer Parklandschaft mit kleinräumigen Wald-WiesenElementen;
• klare, geschwungene Konturen, ein sanftes Relief, ein teppichartige Bodenbewuchs und Wege, die in vielversprechenden Windungen im Horizont verschwinden (“mystery effect”);
• eine abwechslungsreiche Szenerie mit ständig neuen Perspektiven und Konstellationen;
• natürliche Gewässer jeder Art, wobei geradezu als Inkarnation des landschaftlich Schönen ein See gilt, dessen locker baumbewachsenes Ufer sich im Wasser spiegelt.
Derlei meist über die Bewertung von Bildreihen ermittelte Kriterien sind zu ergänzen durch den einschlägig bekannten Drang nach
• schönen Aussichten, hinter denen eine generelle Vorliebe für  dreidimensionale Perspektiven bzw. große geschlossene Räume steht;
• dem Aufenthalt in Übergangszonen (Ufer, Waldrand), die bei Bedarf einen raschen Wechsel von einem Landschaftsmedium in das andere ermöglichen;
• Ruhe im Sinne von akustischer Unaufdringlichkeit, die weniger von absoluter Stille als von sanften Naturgeräuschen geprägt ist;
• frischer Luft als Synonym für ein unbelastetes Klima und Gegenstück zur abgestandenen Atmosphäre unsere Städte und Aufenthaltsräume.

Recht auf Natur
Wenn man sich nach den Ursachen dieses naturästhetischen Gleichklangs fragt, stößt man unweigerlich auf die menschliche Gattungsgeschichte. Eine genauere Analyse zeigt, daß die heute als “schön” empfundenen Landschaftselemente für unsere sammelnden und jagenden Vorfahren besonders überlebensfreundlich waren. Was damals ein Gefühl von Sicherheit
und Geborgenheit vermittelte, verbindet sich heute mit dem scheinbar so schwer definierbaren ästhetischen Wohlgefühl eines schönen Anblicks, ohne daß wir uns noch über die Herkunft dieser Emotionen im Klaren sind.
Die Naturpsychologie zeigt also nicht nur, wie tief auch der moderne Hightech-Bürger nach wie vor mit der Natur verbunden ist, sie deutet auch auf die Wurzeln dieser Beziehung.
Wir sind als animalische Gattung in der Auseinandersetzung mit unserer natürlichen Umwelt groß geworden, alle unsere Sinne und Fähigkeiten bis in unsere innersten Gefühle und Reaktionsmuster hinein sind darauf  abgestimmt. Daran haben die letzten Jahrtausende einer sich ständig beschleunigenden Zivilisierung kaum etwas ändern können.
Das bedeutet aber nichts anderes, als daß zu unserer vollen Entfaltung als Mensch nach wie vor die Auseinandersetzung mit der Natur dazugehört. Oder um es in modernen gesellschaftspolitischen Kategorien auszudrücken: Das Naturwesen Mensch braucht zu seiner Entwicklung unabdingbar eine natürliche Umwelt, er hat einen ganz elementaren Bedarf an Umgang mit der Natur und insofern auch ein grundlegendes Recht auf Natur. Dabei handelt es
sich ebenso um ein Naturrecht wie um ein Menschenrecht.
Welche Auswirkungen grundlegende Verstöße gegen dieses Recht haben, zeigen am offenkundigsten die zunehmend unkontrollierbaren Verhältnisse und verlorengegangenen Maßstäbe in unseren Megastädten ebenso wie in den raumschiffartig isolierten Steuerungsetagen unserer Gesellschaft. In einer Zeit, in der so viel vom Recht der Natur die Rede ist, muß daher zugleich auch über das Recht auf Natur nachgedacht werden, kommt doch in diesem
Medium die Gattung Mensch erst zur vollen Entfaltung.
Unter den Bedingungen der Industriegesellschaft heißt Recht auf Natur vor allen Dingen Recht auf Naturerfahrung und Naturerlebnis. Dass es dazu die vorhandene Restnatur zu bewahren gilt – und zwar in weitestmöglichem Umfang und Maße – versteht sich von selbst. Das Recht auf Natur schließt also die Pflicht zum Erhalt der Natur ein. Sie ist nicht nur für unsere physische Existenz, sondern auch für unser psychisches Wohlbefinden unabdingbar. Während der Physis jedoch mit der Sicherstellung der Nahrungsmittel, Wasser- und Luftreproduktion wenigstens im Prinzip genüge getan wird, verlangt die Psyche nach dem unmittelbaren Naturkontakt.
Insofern muß nicht nur die Natur als solche bewahrt, sondern auch der Zugang zu ihr gesichert werden – und das nicht nur in idyllischen Urlaubsländern, sondern auch im alltäglichen Umfeld. Das Bundesamt für Naturschutz hat in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen, ob nicht parallel zu den Naturschutzgebieten nicht auch gesonderte Naturerfahrungs oder -erlebnisgebiete auszuweisen sein, die vor allem auch den Einwohnern großer Städte einen Zugang zur Natur eröffnen. In der Diskussion dieses Vorschlags wurde zwar vor allem von sozialwissenschaftlicher Seite vor der Aufteilung der Natur in diverse Interessensphären bzw. der Ausweitung des Zoo-Modells (Wildparks, Nationalparks, Spielparks) gewarnt, zugleich aber die Schaffung und Bewahrung solcher Gebiete in städtischen Räumen befürwortet,
und zwar speziell mit Hinblick auf die natürliche Entfaltung von Kindern in einem besonders engen Netz innerhalb von Wohngebieten.
Defizit der Psychologie Allerdings blieb die entscheidende Frage, wieviel Natur denn eigentlich der Mensch braucht, um sich seiner Natur gemäß entwickeln und entfalten zu können, unbeantwortet. Zu den ersten, die sie nachdrücklich gestellt hat, gehört der Psychologie Ulrich Gebhard. Bereits in der Eileitung seines Buches “Kind und Natur” muss er indes eingestehen,  dass seine Zunft dieses Thema bislang sträflich vernachlässigt hat. Die Entwicklung der Persönlichkeit werde von der Psychologie allein aus intra- und interpsychischen Prozessen heraus erklärt.
Dabei gebe es durchaus Hinweise, dass auch die Auseinandersetzung mit der materiellen Umwelt die Entwicklung junger Menschen maßgeblich prägt.
Die empirischen Belege, die Gebhard hierzu vorwiegend aus der  amerikanischen Literatur zusammenträgt, sind noch spärlich. Wir wissen offenbar mehr über die Ökologie der Tiere als über den Gebrauchswert von Natur und Landschaft für den Menschen. Dennoch ist soviel bereits klar:
• Isolationsexperimente zeigen, dass fehlende Umweltstimuli teilweise noch verheerendere Auswirkungen auf die menschliche Psyche haben können als mangelnde Sozialkontakte.
• In Träumen, Zeichnungen und Geschichten von jungen Menschen kommen Naturelemente weit häufiger vor als in ihrem wirklichen Leben
• Kinder sind besonders empfänglich für und interessiert an Naturkontakten. Als Spiel- und Aktionsräume ziehen sie eindeutig die belebte der unbelebten Natur vor. Das mag damit zusammenhängen, dass sie besonders gern mit Dingen umgehen, die Reaktionen zeigen und möglichst vielfältig und komplex sind. Solche Elemente finden sie vorzugsweise in der Natur, und in der Tat begünstigt der Umgang damit auch ihre kognitive wie motivationale
Entwicklung
• Die Bevorzugung natürlicher Spielszenerien hängt sicher auch damit zusammen, dass sich Kinder dort ungestört und unbeaufsichtigt fühlen. Letztlich geht es ja auch Erwachsenen so, wenn sie den Zwängen der Zivilisation entfliehen wollen. Doch frühestens junge Erwachsene entwickeln auch ein bewusstes Gefühl für die Schönheiten der Natur: Während
sie sich immer weniger für das Naturdetail interessieren, sind sie immer mehr in der Lage, die Harmonie natürlicher Szenerien zu genießen. Das heißt allerdings nicht, dass Kinder naturästhetischen Reizen nicht zugänglich sind, doch drücken sich ihre Reaktionen, wie unsere Erfahrungen mit jungen Wandergruppen zeigen, eher in unbewussten Stimmungsschwankungen aus
Naturentfremdung Leider kann Gebhard nicht mit nennenswerten eigenen Untersuchungen zum Naturverhältnis Jugendlicher aufwarten. Wir haben daher in Marburg nach allerlei Vorversuchen Ende der 90er Jahre unter dem Arbeitstitel “Lila Kuh” selber eine größere natursoziologische Studie
durchgeführt, in die mehr als 2.500 Sekundarschüler/innen aller Alterstufen und Schulformen
– je zur Hälfte aus großstädtischen und ländlichem Umfeld (Ruhrgebiet und Sauerland) – einbezogen waren. Ihr Ziel war es, einen empirischen Eindruck vom aktuellen Maß der Naturentfremdung der jungen Generation zu bekommen.
Daher auch der Arbeitstitel: Er nahm Bezug auf einen Malwettbewerb in bayerischen Kindergärten, dessen schrilles Ergebnis Mitte der 90er Jahre durch die Presse ging: Ein Drittel der beteiligten Kinder hatten die vorgedruckten Kühe auf dem Einsendebogen nach dem Vorbild einer penetranten Schokoladewerbung lila ausgemalt. Sind unsere Jüngsten, so wurde damals gefragt, mental schon soweit durch das Werbefernsehen vereinnahmt, dass sie Natur und Fiktion nicht mehr unterscheiden können?
Um dieses in der Tat fatale Indiz von Naturentfremdung zu überprüfen, enthielt unser Fragebogen ganz versteckt auch eine unscheinbare Frage nach den Farben elementarer Tiere und Pflanzen. Zu unserer Beruhigung brachte so gut wie keiner der über Zehnjährigen die Farbe lila ins Spiel. Vielleicht hatten auch die bayerischen Youngster diese Farbwahl nur aus Spaß an der Farbe oder der witzigen Schokolade-Assoziation getroffen.
Dafür schrieb jeder zehnte Jugendliche der Ente unerwarteterweise die Farbe gelb zu.
Bekanntlich sind alle prominenten Fernsehenten (mit Ausnahme der Duckschen Dynastie) in Anlehnung an das gängige Kindchenschema gelb, während man in der Realität nur sehr selten ein gelbes Entenküken zu sehen bekommt – haben die Medien also an einer ganz anderen Stelle zugeschlagen? Tatsächlich ergaben Nachfass-Befragungen, dass die Ente umso gelber ausfällt, je jünger die beteiligten Kinder sind, bis in der ersten Grundschulklasse das Federtier fast gänzlich mutiert ist. Mit anderen Worten: Unsere Kinder lernen Enten und damit womöglich die ganze Natur zuallererst im Fernsehen kennen, bevor ihr mediales Naturbild allmählich von der Wirklichkeit korrigiert wird.
Aber auch ältere Kinder haben Schwierigkeiten mit Naturfarben. So konnten die von uns befragte Schüler der Klassenstufen 4-12 zu einem Viertel nicht die Farbe einer Buchecker, zu  zwei Fünftel nicht die Farbe blühenden Rapses und zu mehr als der Hälfte nicht die Farbe einer Kartoffelblüte zutreffend angeben – der häufigste Laubbaum, die auffälligste Ackerpflanze und die Quelle der vielgeliebten Chips und Fritten sind ihnen nicht geläufig. Das deckt sich mit den Befunden anderer Untersuchungen, denen zufolge nurmehr ein Siebtel der Schulabsolventen fünf Zugvögel- oder Schmetterlingsarten benennen konnten, während einem Fünftel hierzu gar nichts in den Sinn kam. Erwachsene kommen in dieser Hinsicht nicht viel besser weg: In einer Allensbach-Umfrage vermochten anhand von Blattzeichnungen immerhin
60% von ihnen einen Ahorn, aber lediglich 20% eine Linde richtig anzusprechen.
Die schleichende Entfremdung von der Natur ist also ein allgemeiner Prozeß. Er betrifft im übrigen nicht nur das Naturwissen, sondern auch den Naturumgang: Wenn zwei Drittel der Teilnehmer unserer Jugendstudie – und zwar gleichermaßen Jungen wie Mädchen – sich ausgesprochen unwohl bei der Vorstellung fühlen, einen Käfer über ihre Hand krabbeln zu lassen, dann scheinen ihnen elementare Kindheitserfahrungen abzugehen. Tatsächlich sahen sie sich auf entsprechende Bitten nur zur Hälfte in der Lage, von einem eindrucksvollen Naturerlebnis zu berichten – jedem Zweiten fiel absolut nichts dazu ein.
Diese erschreckende Lücke in Wissen und Erfahrung wird überdeckt durch eine ausgesprochen süßliche Naturromantik. Natur, das lässt sich aus weiteren Befragungsergebnissen schließen, ist für junge Menschen etwas Schönes, Niedliches, Hilfloses, Drangsaliertes, dem wir helfend beiseite stehen müssen.. Wer Bäume pflanzt und Tiere füttert, ist gut, wer Bäume fällt und Tiere tötet, ist böse. Mehrheitlich kritisch wird es schon gesehen, wenn man im Wald
vom Wege abgeht, Grillplätze aufsucht oder zeltet.
Ganz offensichtlich ist die Natur für Kinder und Jugendliche eine armes süßes Bambi, dass man einerseits hegen und pflegen muss, andererseits aber nicht anfassen darf, um es nicht zu gefährden. Diese Bambisierung der Natur verbindet sich mit einer moralischen Selbstaussperrung, durch die sich die ohnehin schon fortgeschrittene Naturentfremdung gewissermaßen
selbst verstärkt. Dass die abstruse Verzeichnung der Wirklichkeit zu einem billigen Rührstück nicht der kindlichen Fantasie entstammt, sondern ständig von Medien verbreitet, von Pädagogen verstärkt und von Naturschützern, Forstleuten und Jägern zum Schutz ihrer Reservate bewußt genutzt wird, deutet darauf hin, dass das erwachsene Naturbild sich nicht sonderlich
von dem der Kinder unterscheidet. Wir alle haben schon lange kein realistisches Bild mehr von der Natur, von der äußeren so wenig wie von der eigenen, und deshalb vermögen wir uns auch nicht mehr naturgerecht zu verhalten, im Großen wie im Kleinen.
Natürliche Freiräume schaffen Was ist angesichts dieser Fehlentwicklung zu tun? Bleiben wir bei den Kindern: Hier hat sich unter der Hand mit den Waldkindergärten ein Modell entwickelt, das im wahrsten Sinne
des Wortes Schule machen könnte. Kinder, die ihre Tage bei nur lockerer Aufsicht im Wald verbringen, fühlen sich nicht nur erstaunlich wohl dabei, sondern entwickeln eine ungewöhnliche Kreativität, Selbstsicherheit und Solidarität. Sie können sich unentwegt mit den einfachsten Mitteln beschäftigen und erwerben dabei körperliche, seelische und soziale Fähigkeiten, die man von “normalen” Kindergartenkindern kaum kennt.
Der derzeit vorherrschende Standard-Alltag von Kindern und Jugendlichen ist demgegenüber geprägt nach Ausweis der Jugendforschung geprägt von künstlichen Inszenierungen:
Man hält sich nach einem festen Organisationsplan fast ausschließlich in geschlossenen Räumen auf, die wie Inseln durch Fahrleistungen der Eltern überbrückt werden und sich im Moment durch die Fixierung auf elektronische Medien auch noch rasant ins Zweidimensionale verflachen. Nach einer Freiburger Studie zum kindlichen Tageslauf werden nur noch rund 20 Minuten täglich, das sind etwa 5% der verfügbaren Zeit, im freien Spiel außerhalb der vier Wände verbracht. Das Ergebnis sind einerseits hochentwickelte formale Fähigkeiten, aber andererseits auch ein auffälliger Mangel an Bedeutungen und Inhalten im Leben der Kinder.
Aus dem Mangel an echten Erlebnissen und authentischen Erfahrungen, an eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und persönlichen Herausforderungen resultiert ein Wirklichkeitsverlust, der nicht nur die Umwelt, sondern auch die eigenen Person betrifft.
Schuld hieran ist nach Baldo Blinkert, dem Urheber dieser Studie, ein eklatanter Mangel an naturnahen Räumen zum spontanen, unbeaufsichtigten Spielen. Unsere Städte und ländlichen Wohnviertel sind bereits komplett durchgestylt, nicht ist dem Zufall überlassen, nichts mehr gestaltbar. Für Kinder und Jugendliche aber ist das eigene kreative Gestalten – das Herstellen von Dingen und sozialen Beziehungen – extrem wichtig. Wenn in einer perfektionierten Welt der fertigen Dinge nichts mehr zu gestalten ist, müssen junge Menschen den Perfektionierungsprozess zwangsläufig rückgängig machen: Ihr Gestaltungsdrang hat nur noch die Chance der Umgestaltung des Fertigen, seiner Zerstörung.
Als Gegenrezept empfiehlt Blinkert die Schaffung von naturnahen Freiräumen in den Wohnlagen. So wie man für die ungestörte Entfaltung der Natur geschützte Biotope ausweist, muss man auch für eine natürliche Entwicklung von Kindern Soziotope schaffen und schützen. Wo es solche unkontrollierten Freiräume gibt, liegt die kindliche Outdoor-Quote nachweislich mehrfach höher und die Einschaltquote mehrfach niedriger als in “ordentlichen”
Wohngebieten. In aller Regel werden vorfabrizierte Kinderspielplätze den Anforderungen an adäquate kindliche Aktionsräume nicht gerecht. Daher wurden in einem Freiburger Modellversuch einige dieser klinisch langweiligen Geräteansammlungen drastisch zurückgebaut:
Nach Abräumen von Rutschen, Schaukeln und Wackeltieren rückte ein Bagger an, der Löcher grub und Hügel aufwarf. Mit ein paar Brettern, Balken und Steinen war der kindlichen Improvisationslust genüge getan, und die nachwachsende wilde Natur tat ein übriges: Statt vereinzelter Kinder tauchten nun ganze Scharen auf, um sich hier ihre eigenen Welten zu bauen.
Ähnliches wird auch aus anderen hochindustrialisierten Ländern berichtet: Nicht die aufwendig bestückten Spielplätze, sondern die von Planern vergessenen Flächen werden von den Kindern angenommen.
Wenn Blinkert in diesem Zusammenhang von einem Recht auf natürliche Freiräume spricht, so gilt dies nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Auch sie brauchen wenigstens zeitweilig eine natürliche Umgebung, um sich von den Verbiegungen des einseitigen Zivilisationsstresses wieder ins Lot zu bringen. Was vielen noch als ganz individuelles Rezept der Stressfolgen-Rehabilitation erscheint, ist, wie wir bereits eingangs erfahren haben, längst ein gesellschaftlicher Trend geworden – vielleicht sind seine Ursachen nun etwas nachvollziehbarer.
Die Spitze des Doppeltrends zu mehr Zivilisationsstress und mehr kompensatorischer Naturbegegnung hat mittlerweile längst den medizinischen Sektor erreicht. Mehr und mehr wird der Aufenthalt in einer natürlichen Umwelt als Therapeutikum eingesetzt – meist in der Form des Wanderns, bei dem auch die eigene Natur optimal ins Spiel gebracht wird. Die
meisten Zivilisationsschäden von Herz-Kreislauf-Problemen über  Immunschwäche und Stoffwechselerkrankungen lassen sich hierdurch ebenso günstig beeinflussen wie psychische Fehlentwicklungen wie Psychosen und Depressionen. Auch im sozialpädagogischen Bereich
bieten naturnahe Programme wie etwa Abenteuer- oder Trekking-Touren den aus den zivilisatorischen Bahnen Herausgefallenen die Chance, in der direkten Konfrontation von innerer und äußerer Natur wieder Fuß zu fassen, ein neues, sozial stabileres Ich aufzubauen.
Die in ihrem Ausmaß noch gar nicht voll überschaubaren heilenden Wirkungen des schlichten Naturkontaktes bestärken den Verdacht, dass umgekehrt mangelnde Naturkontakte eine wesentliche Ursache für viele körperliche und seelische, aber auch soziale Fehlentwicklungen sein könnte. Noch gibt es hierzu keine systematischen Untersuchungen, wie wir ganz generell noch allzu wenig über die komplexen Verbindungen unserer eigenen mit der äußeren
Natur wissen. Hier sind dringend weitergehende Untersuchungen angebracht, um mehr Klarheit darüber zu gewinnen, was wir eigentlich tun, wenn wir den Prozess der technischen Zivilisation immer weiter ungebremst vorantreiben. Soviel ist nach dem Vorangegangen sicher:
Der Slogan “jedes Kind ans Internet” geht mit Sicherheit in die falsche Richtung, “jedem Kind ein Stück Natur” wäre da schon richtiger. Um dies indes unseren technik- und bequemlichkeitsversessenen Zeitgenossen  Nahezubringen, ist es höchste Zeit, eine Debatte um das Recht auf Natur zu entfachen.

Quelle: www.natursoziologie.de 

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